Es ist kaum vorstellbar für alle, die ihre Joggingrunde drehen oder am Wochenende durch den Park spazieren. Wenn Menschen mit spastischer Zerebralparese 200 Meter mit dem Laufrad bewältigen, sind das Riesenschritte. Sport- und Bewegungswissenschaftlerin Annika Kruse hilft den Betroffenen dabei, die körperlichen Grenzen zu überwinden. Erste Ergebnisse einer aktuellen Studie stimmen jedenfalls optimistisch.
Ihre Muskeln machen nicht das, was sie will. Ihre Finger sind verkrampft, die Beine steif. Das Gehen ist der mittlerweile 18-Jährigen – wir nennen sie Emma – nicht möglich. Mit dem Rollstuhl kann sie sich fortbewegen. Das Gehirn der jungen Frau wurde bei der Geburt geschädigt. Seitdem leidet sie an spastischer Zerebralparese.
Emma gibt es zwar nur für diesen Artikel, tatsächlich leben in Österreich aber viele Tausende – eine genaue Anzahl liegt nicht vor – mit dieser motorischen Beeinträchtigung. Sie plagt nicht nur das Handycap, denn die stark reduzierte Mobilität kann weitere gesundheitliche Probleme hervorrufen. „Inaktivität führt ganz generell zu einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, bestätigt Annika Kruse. „Und mit Zerebralparese ist dieses wahrscheinlich noch einmal größer.“
Fitness und Vorsorge
Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Public-Health-Forscherin mit der Bewegungsstörung. Ihr Ziel: „Ich möchte die Lebensqualität der Menschen verbessern.“ Daher untersucht die Wissenschaftlerin, wie sich trotz der Einschränkung die körperliche Aktivität durch sportliche Betätigung steigern lässt und weiteren Leiden vorgebeugt wird. Vor allem bei jungen Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer Zerebralparese, wie es Emma ist. „Weil wir über diese Personengruppe, die aus Schule und elterlicher Obhut bereits heraußen ist, am wenigsten wissen“, begründet Kruse.
Sie verwendet für ihre wissenschaftliche Untersuchung ein spezielles Laufrad, das in den 1990er-Jahren in Dänemark entwickelt wurde und insbesondere in den skandinavischen Ländern für Therapiezwecke verbreitet ist. Als Sportgerät kommt es beim Frame Running, einer para-leichtathletischen Disziplin, zum Einsatz. „Es hat drei Räder, eine Vorrichtung, die das Sitzen unterstützt, sowie eine Brustplatte, auf die man sich legen kann“, beschreibt die Forscherin. „Das Wichtige daran ist, dass die Beine im Spiel sind und man sich eigenständig mit den Füßen fortbewegen kann. Das übt letztendlich einen Reiz auf den ganzen Körper aus.“
An der Studie sind drei Vergleichsgruppen jeweils im Alter zwischen 14 und 30 Jahren beteiligt. Eine mit Personen, die mittelschwer bis schwer an Zerebralparese leiden, eine mit einer leichteren Ausprägung sowie eine gesunde Kontrollgruppe. Zur Veranschaulichung des Ist-Zustandes der ersten Gruppe zu Beginn der Untersuchung führt Annika Kruse ein paar Werte ins Treffen: Beeinträchtigte konnten mit dem Laufrad bei einem Fitnesstest gerade einmal 6,5 Prozent jener Distanz zurücklegen, die gesunde Personen gleichen Alters schafften. Die höchste gemessene Sauerstoffaufnahme – ein Indikator für die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems – war fast um die Hälfe verringert, die Muskelkraft der Kniebeuger- und -strecker sogar um mehr als drei Viertel.
Erstaunliche Steigerung
Soweit die Analyse der Lage vor dem Training. Umso vielversprechender sind die ersten Ergebnisse: Nach insgesamt 24 je einstündigen Übungseinheiten innerhalb von zwölf Wochen hat sich bei bislang sechs Testpersonen die Sauerstoffaufnahme um bis zu 80 Prozent verbessert. Die mit dem Sportgerät in sechs Minuten zurückgelegte Distanz hat sich im Schnitt auf 230 Meter mehr als verdoppelt. „Die Strecke wurde außerdem mit einem geringeren Energieverbrauch bewältigt“, weiß die Bewegungs- und Sportwissenschaftlerin. Die Details sowie weitere Auswertungen, etwa über die Effekte auf die Muskulatur sowie die Beweglichkeit der Gelenke, folgen in den kommenden Monaten. „Mehrere Testpersonen schafften sogar eine ganze 400-Meter-Runde am Universitätszentrum Rosenhain“, ist Annika Kruse von der gesteigerten Leistungsfähigkeit beeindruckt. „Die Teilnehmer:innen gehen dabei wirklich über ihre eigenen Grenzen hinaus.“ Nicht nur körperlich wurden Fortschritte erzielt. Die Erfolge stärken die Motivation und verbessern gleichzeitig das Wohlbefinden.
Das Projekt, das vom Wissenschaftsfonds FWF und vom Land Steiermark gefördert wird, läuft noch ein Jahr lang. Daher werden auch noch weitere Proband:innen – speziell mit leichter Zerebralparese – gesucht.
von Andreas Schweiger